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Tietze Heinrich

HEINRICH FRANZ FRIEDRICH TIETZE wurde am
31. Oktober 1880 in Schleinz in N.Ö. geboren.
Sein Vater war Emil Tietze, Direktor des geologischen Instituts an der Universität in Wien, und seine Mutter war Rosa von Hauer, Tochter des Geologen Franz Ritter von Hauer. H. T. studierte ab 1898 Mathematik (anfangs übrigens mit dem Gedanken, Astronom zu werden) an der Technische Hochschule in Wien.

Dort schloss er eine enge Freundschaft mit drei anderen Studenten der Mathematik, Paul Ehrenfest , Hans Hahn und Gustav Herglotz. Sie waren bekannt
als die "untrennbaren Vier".
Sein Freund Herglotz überredete 1902 Tietze in München seine Studien fortzusetzen. Nach einem Jahr kehrte er nach Wien zurück und wurde von Gustav von Escherich als Dissertationsvater betreut und promovierte 1904.
Heinrich Tietze habilitierte sich 1908 bei Wilhelm Wirtinger mit einem Thema
aus der Topologie ("topologische Invarianten") und lehrte anschließend
als Privatdozent an der Universität Wien.
Ab 1910 bis 1919 war er ordentlicher Professor an der Deutschen Technischen Universität in Brünn. Seine Lehrtätigkeit wurde durch den 1. Weltkrieg unterbrochen (er diente von 1914 – 1918 als Soldat).
Ab 1919 lehrte er an der Universität Erlangen und anschließend ab 1925
an der Universität in München und emeritierte dort 1950. Er verbrachte den Rest seines Lebens in München, wo er am 17. Februar 1964 verstarb.


MATHEMATISCHE LEISTUNGEN:
Schon bei seiner Dissertation bei Gustav von Escherich über eine Klasse,
nach E. H. Moore "transzendental-transzendent" genannten Funktionen (1904)
ist Tietze bei seinen mathematischen Untersuchungen gewissermaßen Eklektiker gewesen, und so liegt es ihm weniger, sich jeweils umfangreichen, gerade im Brennpunkt des Interesses stehenden und von vielen Seiten bearbeiteten Theorien zuzuwenden.
Ob es sich um den kombinatorischen Aufbau der Topologie handelt,
um Kettenbrüche, um Deformationen von Flächen in sich oder um stetige Erweiterungen stetiger Funktionen, um den Orientierungsbegriff, um konvexe Figuren, metrische Konstruktionen mit Zirkel und Lineal oder anderen Instrumenten, um symmetrische Funktionen und komprimierte Gitterpunktmengen oder um Fragen des Würfelns mit verschieden gestalteten Würfeln - allemal bevorzugt er anscheinend frei gewählte Themen abseits der belebten großen mathematischen Straßen - gleichsam schattige Plätze, die nicht oder noch nicht vom starken forschenden Verkehr erreicht und überflutet sind.
In seiner Habilitationsschrift 1908 bei W. Wirtinger mit einem topologischen Thema über "Topologische Invarianten" gibt er den ersten Hinweis auf ein Isomorphismusproblem für Gruppen, nämlich: wenn zwei Gruppen durch begrenzte Darstellungen definiert werden, gibt es einen Algorithmus zum Entscheiden,
ob sie isomorph sind oder nicht. Anschließend publizierte er wesentliche Arbeiten
ab 1925 über die Grundlagen der allgemeinen Topologie.
Zu den Themen in der Topologie, die Tietze bearbeitete, gehörten u.a. Knotentheorie und Jordan-Kurven. Mit L. Vietoris schrieb er auch einen Artikel
über Topologie für die Mathematische Enzyklopädie.

Noch in Wien hielt er mit H. Hahn einen Zyklus volkstümlicher Universitätskurse
über höhere Mathematik ab, der erstmals 1911 und 1925 als Buch mit dem Titel "Berühmte mathematische Probleme" erschien.
Der Mathematiker Seebach schrieb damals: "Dieses Buch ist ein Geschenk
für mathematisch interessierte Leute, wobei die Darstellung der gleichmäßigen schwierigen mathematischen Fragen in einer sehr freien und eindrucksvollen Art erfolgt".
Im Wintersemester 1932/33 hielt H. Tietze jeden Montag eine Abendvorlesung
mit dem Ziel einer Popularisierung der Mathematik mit dem Thema
"Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neure Zeit."
Diese Vorträge wurden ein großer Erfolg, da er für die Veranschaulichung
eine große Anzahl von Lichtbildern und Tabellen zur Vorführung mit Projektionsapparat und Epidiaskop verwendete.
Diese Vortragsreihe wiederholte er im WS 1935/36. Seiner Meinung nach verfehlte sie ihr Ziel, da nur Mathematiker die Vorträge besuchten und nicht jene Leute,
für die er die Popularisierung angedacht hatte.
1949 erschienen diese Vorträge in Buchform in zwei Bänden
mit jeweils 14 Vorlesungen für Laien und Freunde der Mathematik.
Als Widmung schrieb er: "Meinen lieben Kollegen Constantin Caratheodory
und Oskar Perron gewidmet in dankbarem Gedenken an alle die Jahre
gemeinsamen Werkens".

Als Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde er 1934
zum Klassensekretär der naturwissenschaftlich-mathematischen Abteilung gewählt. In dieser Funktion bekam er während der nationalsozialistischen Herrschaft
in Deutschland große Schwierigkeiten und wurde 1942 als Klassensekretär abgesetzt. Dazu ist ein Bericht des Gaudozentenführers Dr. Otto Hörner
vom 18. März 1940 erhalten:

In meiner Eigenschaft als Gaudozentenführer München-Oberbayern überreiche ich meine grundsätzliche Stellungnahme zur Neuordnung der Bayer. Akademie
der Wissenschaften….. Soviel von der philosophisch-historischen Abteilung.
Ein noch wesentlich dunkleres Bild bietet sich, wenn man die naturwissenschaftlich-mathematische Abteilung würdigt.
Beherrscht wird diese Abteilung von dem Klassensekretär, dem o.Professor
für Mathematik der Universität München Dr. Heinrich Tietze, ein absolut unbelehrbarer Reaktionär, für den auch heute noch der Nationalsozialismus
auf den Hochschulen indiskutabel ist.
Ihm zur Seite steht eine kleine ebenso reaktionäre Clique, unter der als führend
der em. o.Professor für theoretische Physik Dr. Arnold Sommerfeld
und der o.Professor für Mathematik der Universität München Dr. Oskar Perron auffallen, die ebenso wie Tietze jedes nat.soz. Verlangen ablehnen und sabotieren. Diese Männer versuchen heute einen Kampf zu führen um die 'Reinhaltung' i
hrer Klasse von Gelehrten, die sich offen zum Nationalsozialismus bekennen;
sie sind bösartig unzugänglich jeden Zuspruchs von außen, doch endlich berechtigten nat.soz. Wünschen entgegenzukommen und sie verhindern
durch parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse des ihnen gefügigen Plenums
jeden dahingehenden Vorschlag. Der Herr Präsident sagte mir selbst,
dass er gegen diese Obstruktion machtlos sei und nur eine Änderung d
urch Absetzung des Klassensekretärs Professor Tietze erreicht werden könnte. Zusammenfassend lässt sich für beide Abteilungen also sagen:
Dass Gruppen von Reaktionären es bis heute mit Erfolg verhindert haben,
die Bayer. Akademie der Wissenschaften im nat.soz. Sinne umzubauen,
und dass sie es weiter auf dem Weg über persönliche Beeinflussung u
nd durch parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse versuchen wollen,
die Bayer. Akademie als letzte Insel einer reaktionären antinationalsozialistischen Gelehrtenrepublik zu erhalten“.

H. Tietze
wurde 1946 wieder in die Akademie als Generalsekretär aufgenommen
und füllte diese Funktion bis 1951 aus. Er war auch seit 1959 Mitglied
n der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Tietze erhielt viele Ehrungen für seine wissenschaftliche Arbeit.


LITERATUR:
1.) Heinrich Tietze; Gelöste und ungelöste mathematische Probleme
aus alter und neuer Zeit; 1. und 2. Band, Biederstein Verlag, München, 1949
2.) F. Litten, Die Carathéodory-Nachfolge in München 1938-1944,
Centaurus 37 (1994), 154-172.
3.) O. Perron; Heinrich Tietze, Ludwig- Maximilians- Universität, Münichen, Jahres-Chronik (1963/64), 34-38.
4.) O. Perron; Heinrich Tietze 31.8.1880- 17.2.1964,
Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung 83 (1981), 182-185
5.) H. Reitberger; The contributions of L Vietoris and H Tietze to the foundations
of general topology, in Handbook of the history of general topology
(Dordrecht, 1997), 31-40.
6.) L. Vietoris; Heinrich Tietze, Almanach der Österreichischen Akademie
der Wissenschaft 114 (1964), 360-377.